Menschen haben Schwächen. Teils sind sie in den Genen verankert, teils werden sie durch Ereignisse oder durch Erziehung geprägt. Eine dieser Schwächen ist die Lüge. Zu lügen, ist wie über eine Brücke schreiten, und an ein anderes Ufer zu treten, von dem man nicht zurück kann, ist man einmal der Lüge überführt. 

Politiker lügen nicht, sie sagen die Unwahrheit. Am Telefon benutzt man eine Notlüge, der Berliner lügt auch nicht, er schwindelt. Lassen wir einmal den pathologischen Lügner beiseite, so sind auch Seemannsgarn und der Scherz, denken Sie an den Aprilscherz, Lügen, für die wir unsere Abstufungen kennen, auch wenn es immer auf das Gleiche, nämlich die Lüge hinausläuft. 

Mit den verschiedenen Ausprägungen der Verschleierungstaktik wissen Pädagogen, Psychologen und Kriminalisten umzugehen. Der Eine benutzt den Lügendetektor, der Andere beobachtet sein Gegenüber ob ihn Mimik oder Gestik verraten. 

Mit der Lüge habe ich meine eigene Erfahrung.

Irgendetwas war damals passiert, schon oft habe ich mich versucht zu besinnen, aber die Ursache fällt mir nicht mehr ein. Ich war noch nicht in der Schule und weiß, es war für ein Vorschulkind ein schlimmes Verbrechen. Ich war unschuldig, aber mir wurde nicht geglaubt. Immer wieder wurde ich einem Verhör unterzogen. Von mir kamen immer wieder die gleichen, wahrheitsgemäßen Antworten. Aber dann, es muss am nächsten Tag gewesen sein, kam das, woran ich mich noch detailliert erinnere. Mit dem Auto fuhren wir eine holprige Straße entlang eines romantischen Tals. Plötzlich hielt mein Vater am Straßenrand. Er stieg aus und ich musste ihm an der Hand folgen. Das vor sich hingurgelnde Flüsschen lag im Sonnenschein. Grüne Wiesen, ein kleines Fachwerkhaus, umgeben von einem blühenden Bauerngarten stand auf der anderen Seite in Ufernähe. Eine Szene wie bei Max und Moritz, in der sie dem Schneider Böck, ritze ratze, eine Lücke in die Brücke sägten.

Um hinüber zu kommen hatte man an zwei Stellen im Fluss einige Mühlsteine zu Pfeilern aufgetürmt, die mit einigen Brettern verbunden waren. So war ein Steg entstanden, dessen beiderseitiges Geländer aus einigen Bohnenstangen bestand. Einfach aber zweckmäßig und solide. An der Hand meines Vaters folgte ich ihm zum Flussufer „Das ist die Lügenbrücke.“ sagte er mit ernster Miene. „Wenn man gelogen hat und geht darüber, bricht sie ein! Also willst Du mir jetzt die Wahrheit sagen?“ Als Kind macht man sich noch keine Gedanken über volkswirtschaftliche Schäden durch Einsturz einer Brücke. Ich habe damals nur die Aussage verweigert. Langsam gingen wir, mein Vater hielt meine kleine Hand fest umklammert, weiter auf die Brücke zu. Schon standen wir auf der ersten Planke. Mit mulmigem Gefühl, aber reinen Gewissens, folgte ich ihm. In der Mitte der Brücke, genau auf halbem Weg zwischen den Mühlsteinen fragte er mich nochmals. Ich blieb bei meiner Aussage. Mein Vater fing an die Brücke in Schwingungen zu bringen, indem er mit dem Oberkörper hin und her schaukelte, was mich in allerhöchste Panik versetzte. Für mich als Kind schwankte die Brücke bedenklich, mein kleines Kinderherz pochte bis zum Hals. In höchster Panik kreischte ich und die Tränen flossen. Nochmals wurde ich gefragt und wieder antwortete ich wahrheitsgemäß. Wortlos drehten wir um, stiegen ins Auto ein und fuhren weiter. Nie wieder wurde über die eigentliche Ursache gesprochen, deshalb habe ich sie wohl auch vergessen. Doch noch zu vielen Gelegenheiten blieb unser familiärer Lügendetektor präsent. Immer wieder wurde scherzhaft gesagt: „Sag´ die Wahrheit, sonst fahren wir zur Lügenbrücke.“ 

Viele Jahre bin ich an dieser Brücke vorbeigefahren und erinnerte mich immer an diese Geschichte. Erst viel später wurde mir klar, dass mein Vater mit in den Fluss gestürzt wäre, hätte sich der Zauber des Einsturzes bei einer Lüge bewahrheitet. Seitdem bin ich gegen jede Art von Folter und seelischer Grausamkeit.

Die Lügenbrücke gibt es heute nicht mehr. Genau an dieser Stelle führt heute die große Brücke der Schnellstraße über den Fluss und hat das einst romantische Tal mit seiner holprigen kopfsteingepflasterten Straße unter Betonmassen begraben. An der Stelle, wo einst das kleine Fachwerkhaus stand, erhebt sich heute ein massiver Brückenpfeiler aus Beton.

Manchmal bedaure ich, die Lügenbrücke nicht mehr meinen Kindern zeigen zu können.